Heterogenität und Inklusion im Biologieunterricht
Inklusionsförderlicher Biologieunterricht – zum Einfluss von Kompetenzrastern auf die Basic Needs Erfüllung von Schüler*innen in heterogenen Lerngruppen
Dissertationsprojekt von Marlen Grimm
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie trägt dazu bei, Planungshilfen und Konzepte für den inklusiven Biologieunterricht zu entwickeln und zu evaluieren. Die gemeinsamen Grundbedürfnisse aller Schüler*innen bildeten (im Sinne eines weiten Inklusionsverständnisses) die Grundlage für die Entwicklung des Unterrichtskonzepts wie auch (im Sinne der Selbstbestimmungstheorie der Motivation) für das Forschungsdesign der Studie. Diese vergleicht die Ausprägung der Basic Needs (Autonomieerleben, Kompetenzerleben und Soziale Eingebundenheit) bei Schüler*innen im Biologieunterricht mit und ohne Kompetenzraster.
Kompetenzraster sind Tabellen, in denen Lernausgangslagen und -ziele in Form von „Ich-kann“-Formulierungen auf verschiedenen Niveaustufen dargestellt werden. Für die Intervention wurden ein Kompetenzraster und entsprechendes Lernmaterial für eine 10-wöchige Unterrichtseinheit zum Thema „Wirbellose Tiere“ entwickelt und im Biologieunterricht drei sechster Klassen eingesetzt. Die Evaluation erfolgte in einer quasi-experimentellen Versuchsplanung (N=96) mit Kontrollgruppe und Messwiederholungen. Die mixed ANOVA zeigte im pre-post-Vergleich einen Anstieg der Werte aller drei Basic Needs in beiden Untersuchungsgruppen, wobei die Unterschiede in der Interventionsgruppe höchst signifikant, in der Kontrollgruppe jedoch (bis auf das Autonomieerleben) nicht signifikant waren. Signifikante Interaktionen traten für das Autonomieerleben und die Soziale Eingebundenheit auf, nicht jedoch für das Kompetenzerleben. Die Auswertung der (weiteren) Messzeitpunkte zeigte in der Interventionsgruppe ein annähernd konstant hohes Niveau aller drei Basic Needs, während es in der Kontrollgruppe (vor allem bzgl. des Autonomieerlebens) Schwankungen gab. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Kompetenzraster für einen inklusiven Biologieunterricht eignen. Um Erklärungen für die o.g. Einschränkungen zu finden und die Ergebnisse der quantitativen Studie qualitativ auszudifferenzieren, ist diese in ein komplementäres Mixed Methods Design eingebettet. Eine nachgeschaltete Interviewstudie wird aktuell mittels Qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet und soll u.a. einen Einblick geben, wie die Basic Needs von (nach verschiedenen Heterogenitätsaspekten) ausgewählten Schüler*innen (N=12) erlebt wurden und welche Aspekte des Unterricht(en)s mit Kompetenzrastern besonderen Einfluss auf die Basic Needs haben. So kann die Studie die Differenzierungsmöglichkeiten im Biologieunterricht ggf. um ein vielversprechendes Instrument erweitern.
Forschungsstand und theoretischer Hintergrund
Neben dem Mangel an inklusiven Unterrichtskonzepten (Maag & Opitz, 2014) wurden bis vor wenigen Jahren auch im Bereich der Unterrichtsforschung systematisch bestehende Desiderata zum Thema Inklusion aufgezeigt (Moser & Kipf, 2015). Die Forschung hat in diesem Feld in den letzten Jahren zwar stark zugenommen (Stinken-Rösner et al., 2020), die Ergebnisse sind jedoch noch nicht flächendeckend in der Lehrer*innenaus- und -fortbildung implementiert und der Bedarf nach konkreten Unterrichtskonzepten in den Schulen ist weiter hoch (Nolte & Bock, 2020).
Die vorliegende Studie trägt dazu bei, Planungshilfen und Konzepte für den inklusiven Biologieunterricht zu entwickeln und zu evaluieren. Im Sinne eines weiten Inklusionsverständnisses (Nolte & Bock, 2020) bildeten die gemeinsamen Grundbedürfnisse aller Schüler*innen hierbei die Grundlage sowohl für die Entwicklung des Unterrichtskonzepts als auch des Forschungsdesigns.
Die theoretische Rahmung dieser gemeinsamen (psychologischen) Grundbedürfnisse liefert die Selbstbestimmungstheorie der Motivation. Diese postuliert u.a., dass sich die Befriedigung der drei Basic Needs (AE: Autonomieerleben, KE: Kompetenzerleben und SE: Soziale Eingebundenheit) positiv auf die Motivation und das Wohlbefinden aller Menschen auswirkt (Deci & Ryan, 2000).
Die Studie vergleicht die Ausprägung der Basic Needs bei Schüler*innen im Biologieunterricht mit und ohne Kompetenzraster.
Kompetenzraster sind Tabellen, welche „idealtypisch Lernausgangslagen und Lernziele in Form von Kompetenzformulierungen auf unterschiedlichen Niveaustufen abbilden“ (Krille, 2016, S. 4). Sie werden als geeignete Instrumente zur Planung und Methodik inklusiven Unterrichts sowie für Transparenz und Reflexion der Lernentwicklung angesehen (Arndt et al., 2014; Prengel, 2016).
Fragestellung
Inwieweit beeinflusst der Einsatz von Kompetenzrastern die Erfüllung der Basic Needs von Schüler*innen der Orientierungsstufe im Biologieunterricht?
Hypothese
Die Intervention fördert die Basic Needs Erfüllung stärker, als dies im Regelunterricht geschieht.
Forschungsdesign
Für die Intervention wurden ein Kompetenzraster und entsprechendes Lernmaterial für eine 10-wöchige Unterrichtseinheit zum Thema „Wirbellose Tiere“ entwickelt und im Biologieunterricht drei sechster Klassen eingesetzt. Die Evaluation erfolgte in einer quasi-experimentellen Versuchsplanung (N=96) mit Kontrollgruppe. Letztere erhielt Regelunterricht zum gleichen Thema. Es wurde eine Fragebogenerhebung im pre-post-Design (32 Items) sowie mit Messwiederholungen nach jeder Unterrichtsstunde (16 Items) durchgeführt. Dabei handelt es sich um einen Paper-Pencil-Test mit 5-stufiger Likert-Skala, welcher im Rahmen einer physikdidaktischen Interventionsstudie entwickelt und pilotiert wurde (Korner, 2015). Mittels mixed ANOVA wurden sowohl der pre-post-Vergleich als auch die Entwicklung über die verschiedenen Messzeitpunkte berechnet.
Forschungsergebnisse
In beiden Untersuchungsgruppen kam es zu einem Anstieg der Werte aller drei Basic Needs. In der Interventionsgruppe waren die Unterschiede zwischen pre- und post-Erhebung höchst signifikant. In der Kontrollgruppe waren die Unterschiede bis auf das AE nicht signifikant. Es zeigten sich statistisch signifikante Interaktionen zwischen der Zeit und den Untersuchungsgruppen für das AE und für die SE. Für das KE konnte hingegen keine signifikante Interaktion festgestellt werden. Die deskriptive Auswertung der gemeinsamen Messzeitpunkte zeigte in der Interventionsgruppe ein annähernd konstant hohes Niveau aller drei Basic Needs ab dem zweiten gemeinsamen Messzeitpunkt, während es in der Kontrollgruppe (vor allem bzgl. des Autonomieerlebens) Schwankungen gab.
Diskussion und Relevanz
Die Ergebnisse zeigen, dass der Biologieunterricht mit Kompetenzrastern alle drei Basic Needs der untersuchten Schüler*innen (höchst) signifikant fördert. Dies deutet darauf hin, dass sich Kompetenzraster für einen inklusiven Biologieunterricht eignen, der auf die gemeinsamen Bedürfnisse aller Schüler*innen fokussiert. Der signifikante Anstieg des AEs auch in der Kontrollgruppe (allerdings mit geringer Effektstärke) kann durch die Betrachtung der weiteren Messzeitpunkte erklärt werden, welche in der Kontrollgruppe starke Schwankungen erkennen ließen. Diese sind vermutlich auf die unterschiedlich autonomieförderlichen bzw. kontrollierenden Unterrichtsmethoden der jeweiligen Stunden im Regelunterricht zurückzuführen, während der Unterricht mit Kompetenzraster offenbar durchgängig autonomieförderlich wahrgenommen wurde. Dass es für das KE (in beiden Gruppen) keinen signifikanten Anstieg gab, könnte daran liegen, dass die Reflexion des eigenen Kompetenzerlebens für alle untersuchten Schüler*innen ungewohnt war. Um u.a. diesen Erklärungsansatz zu überprüfen, ist die Studie in ein komplementäres Mixed Methods Design eingebettet, wobei die quantitativen Ergebnisse der Fragebogenstudie durch qualitative Ergebnisse einer nachgeschalteten Interviewstudie ergänzt werden. Letztere wird aktuell mittels Qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet und soll u.a. einen Einblick geben, wie die Basic Needs von (nach verschiedenen Heterogenitätsaspekten) ausgewählten Schüler*innen (N=12) erlebt wurden und welche Aspekte des Unterricht(en)s mit Kompetenzrastern besonderen Einfluss auf die Basic Needs haben. Dabei wurde bereits deutlich, dass das KE in den Interviews im Vergleich zum AE und der SE besonders intensiv reflektiert wurde. Auf diese Weise kann die Studie einen Beitrag zur Verzahnung von Theorie und Praxis in der Biologiedidaktik leisten und die Differenzierungsmöglichkeiten im Biologieunterricht ggf. um ein vielversprechendes Instrument erweitern (Prengel, 2016).
Literatur
- Arndt, A.-K., Harting, A., Laubner, M., Katzer, P., Laubner, M., & Stenger, S. (2014). Inklusiver Unterricht. Leitideen zur Organisation und Kooperation. In Schulmanagement-Handbuch (Vol. 152). Oldenbourg.
- Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The “What” and “Why” of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-Determination of Behavior. Psychological Inquiry, 11(4), 227–268.
- Korner, M. (2015). Cross-Age Peer Tutoring in Physik. Evaluation einer Unterrichtsmethode. In H. Fischler, H. Niedderer, & E. Sumfleth (Eds.), Studien zum Physik- und Chemielernen. (Band 186). Logos.
- Krille, F. (2016). Kompetenzraster als Instrumente kompetenzorientierten, individualisierten und selbstgesteuerten Unterrichts. Eusl.
- Maag, S. P., & Opitz, E. M. (2014). Inklusiver Unterricht – grundsätzliche Fragen und Ergebnisse einer explorativen Studie. Empirische Sonderpädagogik, 2, 133–149.
- Moser, V., & Kipf, S. (2015). Inklusion und Lehrerbildung–Forschungsdesiderata. In J. Riegert & O. Musenberg (Eds.), Inklusiver Fachunterrichtin der Sekundarstufe (pp. 29–38). Kohlhammer.
- Nolte, M., & Bock, A. S. (2020). Fragen zur Umsetzung von Inklusion in der Schule. Lernen Und Lernstörungen, 9(4), 225–234. doi.org/10.1024/2235-0977/a000312
- Prengel, A. (2016). Didaktische Diagnostik als Element alltäglicher Lehrerarbeit - Formatives Assessment im inklusiven Unterricht. In B. Amrhein (Ed.), Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte (pp. 49–63). Klinkhardt.
- Stinken-Rösner, L., Rott, L., Hundertmark, S., Menthe, J., Hoffmann, T., Nehring, A., & Abels, S. (2020). Thinking Inclusive Science Education from two Perspectives: Inclusive Pedagogy and Science Education. RISTAL, 3, 30–45. doi.org/10.23770/rt1831